Lieferschwierigkeiten in unsicheren Zeiten antizipieren – welche Werkzeuge gibt es?

Erschienen bei Vergabeblog.de.

Bei meiner Arbeit erlebe ich regelmäßig, dass sich anbieterseitig garantierte Lieferfristen unterschiedlich entwickeln. Meist weg vom gewohnten Standard einer Lieferung am nächsten Tag zu einer Lieferung innerhalb der nächsten Monate. Die Trends einzelner Sektoren zeigen zwar, dass Lieferungen noch am selben Tag erfolgen. Jedoch beobachte ich im IT-Sektor, dass Beschaffungsstellen seit 2020 immer häufiger die Lieferfristen verlängern müssen – und zwar um das Doppelte, Dreifache, oder gar noch mehr. Zu Zeiten, in denen Lieferschwierigkeiten relativ einfach und zu verträglichen Kosten behebbar waren, waren auch im Rahmen einer ordentlichen Auftragsvergabe vertraglich vereinbarte Sanktionierungen probate Mittel, um einen Lieferanten bzw. Dienstleister (hier synonym verwendet) zu „motivieren“. Solche Sanktionierungen sind beispielsweise Pönale bzw. Vertragsstrafen und angedrohte Kündigungen. Vertragsstrafen sind oftmals in den Vertragsbestimmungen öffentlicher Aufträge für den Fall des Leistungsverzugs durch den Auftragnehmer vorgesehen.

Diese Zeiten gehören vorerst der Vergangenheit an. Gerade in den letzten zwei Jahren konnten Lieferfristen durch Verzögerungen in der Lieferkette, Quarantänevorschriften und anderer Einschränkungen im IT-Sektor nicht eingehalten werden – durch Umstände, die der Lieferant nicht mehr selbst beeinflussen kann.

Einfache Vertragsstrafen vereinbaren lohnt sich nicht immer

Es mag für den einen oder anderen unangenehm sein, dies in der Öffentlichkeit zu lesen – faktisch tut die Vertragsstrafe jedoch kaum bis gar nicht weh. Jeder Lieferant mit auch nur einem rudimentären Risikomanagement hat diese (gedeckelte und im Zweifel auf den ausgefallenen Leistungsanteil beschränkte) Strafe schon anfänglich, also vor Angebotsabgabe, eingepreist. In Laufzeitverträgen ist es anbieterseitig zumeist nicht notwendig, Vertragsstrafen in hohem Maße mit in den Preis einzukalkulieren. Besonders prägnant lässt sich an dem nachfolgenden Beispiel mit einem Laufzeitvertrag verdeutlichen, dass Vertragsstrafen ein zahnloser Tiger sein können:

Als Auftraggeber haben wir bei unserem Auftragnehmer für 20 Standorte WAN-Leitungen gemietet (Telefon und Internet).
Kosten: Vereinfacht 100 € je Leitung und Monat – also 2.000 € in Summe pro Monat.
Eine der 20 Leitungen fällt nun für eine Woche aus.
Der Vertrag ermöglicht eine Vertragsstrafe in Höhe von 0,2% der Vergütung je ausgefallenem Tag bei 5% maximaler Summenobergrenze.

Wie hoch ist die Vertragsstrafe?

Würde die Höhe der Vertragsstrafe an allen Leitungen bemessen, beläuft sich die Höhe der Vertragsstrafe auf 4 € pro Tag (20 Leitungen * 100 € * 0,002).

Ist die Vertragsstrafe aber nur je ausgefallenem Anteil anzusetzen, beläuft sich die Höhe der Vertragsstrafe auf 0,2 € pro Tag (1 Leitung * 100 € * 0,002). Nehmen wir in diesem Fall an, dass die Vertragsstrafe ab dem 2. Tag greift, beträgt die Vertragsstrafe bei einer Woche Ausfall 1,20 EUR (6 Tage * 1 Leitung * 100 € * 0,002).

Laufzeitverträge „einfach“ kündigen

Den Laufzeitvertrag zu kündigen ist in der Realität nicht so einfach: Zum einen müssen die Voraussetzungen einer Kündigung nachweislich vorliegen, zum anderen muss es in einfach gelagerten Fällen einen umsetzbaren Ausweichplan geben. In komplexeren Fällen fehlt es oftmals schon an einer marktgerechten Exit-Strategie (z.B. aufgrund eines Hersteller Lock-Ins, Migration etc.), wodurch eine Kündigung nicht folgenlos möglich wäre.

Hierzu ein Beispiel:

Wir haben bei unserem Auftragnehmer 500 Laptops gemietet. Die Laptops werden von uns und unseren Kollegen zur täglichen Arbeit genutzt und auch benötigt. Die Umstellung auf diese Laptops hat mehr als ein Jahr gedauert.
Das Vertragsverhältnis ist nicht erfolgreich und wir möchten alsbald kündigen.
Effektiv ist es uns leider nicht möglich, da die Geräte zur Arbeitserbringung benötigt werden, keine direkt nutzbare Alternative zur Verfügung steht und eine Migration zudem Zeit benötigt.

Kreativere Strafen – ein Praxisbeispiel

Noch einen Schritt weiter als Vertragsstrafen gehen Klauseln, welche sich an dem Konstrukt einer Ersatzvornahme orientieren. Die Grundidee dahinter ist, dass ein Lieferant trotz vertraglicher Lieferverpflichtung innerhalb des zugesagten Zeitraumes seiner Pflicht nicht nachkommen will oder kann, so beschafft man sich den Beschaffungsgegenstand woanders und bürdet die etwaigen Mehrkosten seinem säumigen Auftragnehmer auf (auch wenn es das 10-fache kostet).

Dieses Vorgehen erscheint zwar auf den ersten Blick elegant, ist aber eher ein Zukunftsthema für die Versicherungsbranche und keine Klausel für eine Lieferantenbeziehung.

Spaß beiseite – wie gehen wir vor? – Welches wären praktische Wege mit solchen Lieferschwierigkeiten proaktiv umzugehen?

Kleiner Exkurs: Kernprozesse und laufende Kosten von Lieferanten

Die letzten Jahrzehnte ging der Trend bei sehr vielen Unternehmen klar weg von eigener Lagerhaltung hin zur Konzentration auf das eigene Kerngeschäft und die Optimierung der eigenen Geschäftskennzahlen – bspw. auf den Verkauf von Regalwaren.

Die Kosten und das Risiko der Lagerhaltung wurden so an Dienstleister / Lieferanten weitergegeben – mit vermeintlich wasserdichten Verträgen. Solche Verträge funktionieren aber nur so lange, wie die entsprechende Lieferkette „performed“, also wie gewünscht funktioniert. Covid 19 sowie weitere geopolitische Ereignisse haben diese Lieferketten in kurzer Zeit mehrfach belastet und teilweise sogar gesprengt. In diesem Fall bewirken die vorbeschriebenen „Motivationshilfen“ in ihrer praktischen Umsetzung zumeist keine Wunder.

Quo vadis: Lieferschwierigkeiten in unsicheren Zeiten im Beschaffungsvorgang antizipieren

In der Konzipierung von Beschaffungen gibt es heutzutage trotzdem einige Stellschrauben, welche bewegt werden könnten. Manche mit kurzfristigem, andere mit eher mittel- bis langfristigem Blick. Der Einfluss, den die öffentliche Hand mittel- und langfristig auf Geschäftsmodelle und Prozesse von Lieferanten haben kann, sollte nicht unterbewertet werden.

Folgende Szenarien werden im Folgenden intensiver betrachtet:

Szenario 1: Versetzen wir uns in die Lage des Lieferanten. Wir befinden uns in einer akuten Beeinträchtigung oder Unterbrechung der Lieferkette. Jeder Kunde in der Lieferkette hat im Zweifel individuelle Rabattsätze – zum einen bei uns als Lieferanten – aber in der IT häufig auch herstellerseitig mit individuellem Rabattsatz.

Wenn wir also ein Gerät für Kunde X bestellen, welcher beim Hersteller durch den gewährten Rabatt nur 60% des Listenpreises zahlen muss und unser Aufschlag nicht 5%, sondern für diesen Kunden nur 3% beträgt, dann sind wir herstellerseitig auch an entsprechende Lieferbedingungen gebunden. Wir können hier nicht ohne Weiteres ein Gerät nehmen, was wir zu einem teureren Preis für einen anderen Kunden bestellt haben – in der Hoffnung, dass der Hersteller uns dann die Differenz wieder gutschreibt. Lagerhaltung gibt es hier nur kundenspezifisch und nicht kundenübergreifend, wenn überhaupt.

Szenario 2: Wie Szenario 1, nur dass es keine herstellerseitigen Lieferkettenbedingungen bei den gewährten Rabattsätzen gibt. Hier gehen wir davon aus, dass der Lieferant jegliches Gerät, dessen er habhaft werden kann, an einen beliebigen Kunden verkaufen darf und kann. Eine Lagerhaltung ist hier herstellerseitig also nicht eingeschränkt.

Fazit

Um Lieferschwierigkeiten in unsicheren Zeiten beschaffungsseitig vorzubeugen, bieten sich zwar einfache, klassische Maßnahmen, wie die Vereinbarung von Vertragsstrafen oder zusätzlichen Kündigungsrechten an, jedoch sind diese im Zweifel nicht (mehr) zweckdienlich und teilweise wirkungsarm.

Anstatt Energie in noch kreativere Strafen zu stecken, kann die öffentlichen Hand bei der Gestaltung einer Beschaffung anderweitige Stellschrauben nutzen, welche es wert sind, näher betrachtet zu werden – insbesondere in der heutigen Zeit.

Ein Beitrag unseres Mitarbeiters Sebastian Hürthen

Als erfahrener IT- und Vergabeberater möchte er sein Know-how im Bereich der Ausschreibungen einbringen, um so einen Beitrag zur Verbesserung des öffentlichen Beschaffungswesens zu leisten.